1. Überblick
Vor ihrem Aussterben besiedelten wild lebende Honigbienen bevorzugt Waldränder. Honigbienen waren allgegenwärtig wie Ameisen und
sicherten die flächendeckende Bestäubung im Wert von vielen Millionen Euro. Jahrzehnte stand die Frage, warum autonom lebende
Honigbienen in Deutschland ausgestorben sind, zurecht im Fokus der Forschung. Bedeutender erscheint mir heute jedoch die Frage,
wie sich Honigbienen unter den gegebenen Bedingungen wieder flächendeckend ansiedeln lassen.
Ursache für das Aussterben autonom lebender Honigbienen sind vor allem veränderte Lebensbedingungen durch moderne Forst- und
Landwirtschaft und ein Parasit, die heute in allen Bienenvölkern präsente Varroamilbe. Kurzfristig koexistieren Bienenvölker
unter den momentanen Lebensbedingungen in Deutschland mit diesem Parasiten. Die Erfahrung mit vielen hundert domestizierten
Bienenvölkern zeigt jedoch, dass Honigbienen unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen langfristig nicht ohne Pflegemaßnahmen
überleben.
Gegenwärtig sind alle autonom siedelnden Kolonien von Honigbienen aus Beständen domestizierter Honigbienen entwichen. In den
vergangenen drei Jahrzehnten haben wir in Brandenburg und Berlin systematisch solche Bienenvölker, die abseits der menschlichen
Obhut leben, gesucht und erwartungsgemäß festgestellt, dass auch diese autonomen Völker ohne Pflege in wenigen Jahren fast alle
sterben. Zu unserer großen Überraschung und entgegen der Erwartung und Erfahrung fanden wir einige wenige Orte, die bis zur Vernichtung
der Nisthöhle permanent von autonom lebenden Völkern besiedelt waren.
Die Wiederansiedelung autonom lebender Honigbienenvölker ist unter Berücksichtigung der Erkenntnisse, die wir an den wenigen überlebenden Völkern
in den letzten 30 Jahren gesammelt haben, somit schon heute möglich.
2. Bienen und Varroa - beobachtet abseits der menschlichen Obhut
Autonome Kolonien von Honigbienen werden in der Regel von Bienenschwärmen unbekannter Herkunft gegründet, innerhalb weniger
Monate entdeckt und domestiziert. Kolonien, die längerfristig abseits menschlicher Obhut leben, sind sehr schwer zu finden
und besiedeln oft unzugängliche Orte. Daher ist eine lückenlose Dokumentation bei autonomen Völkern sehr mühsam und mit
privaten Mitteln praktisch ausgeschlossen. Somit kann man auch bei den wenigen Nisthöhlen, die über Jahre zu jedem Kontrollzeitpunkt
besiedelt waren, den Tod des Bienenvolkes und eine unbemerkte Wiederbesiedelung und damit eine vorgetäuschte Langlebigkeit des
Bienenvolkes nicht vollständig ausschließen. Da langfristig autonom lebende Bienenvölker selten sind und zum Teil auch schwärmen, ließ sich
die Langlebigkeit von autonom lebenden Bienenvölkern an Hand von morphologischen Merkmalen und den zur Verfügung stehenden
Methoden statistisch leider nur unbefriedigend absichern. Durch systematische Suche und einen glücklichen Zufall konnten wir
in einem Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Wiederbesiedelung ausschließen, da dieses Bienenvolk bis
zur Fällung des Nistbaumes acht Jahre lang nahezu täglich beobachtet wurde. Es lässt sich somit feststellen, dass höchstwahrscheinlich
einige wenige Bienenschwärme autonome Völker aufbauen, die über viele Jahre mit Varroamilben koexistieren. Wurden diese Völker nach der
Zerstörung ihrer Nisthöhle in Standartbeuten umgesiedelt, entwickeln sie sich überraschenderweise wie domestizierte Bienenvölker und
zeigen keine nennenswert erhöhte Varroatoleranz. Man kann somit bei aller gebotenen Vorsicht vermuten, dass die Lebensbedingungen
des Bienenvolkes einen entscheidenden Einfluss auf die Koexistenz von Bienen und Varroamilben haben und dass die beobachtete
Überlebensfähigkeit und die Fähigkeit zur Varroatoleranz bei der Umsiedelung in einen anderen Lebensraum verloren gehen kann.
3. Suche nach Erklärungsmöglichkeiten
Da sich in den letzten 30 Jahren die Hinweise, das eingangs beschriebene Phänomen ernst zu nehmen, zunehmend verdichtet haben,
sucht man nach Erklärungsmöglichkeiten. Honigbienen leben im Nestbereich als Gruppe von Tieren, man kann somit versuchen, auch
die oben beobachtete Varroatoleranz als Eigenschaft eines emergenten Systems zu verstehen. Die Anerkennung von emergenten Phänomenen
bedeutet aber nicht, den Verzicht auf die wissenschaftliche Erklärbarkeit, vielmehr handelt es sich um eine Beschreibung besonders
komplexer Systemeigenschaften. Hier wollen wir emergente Eigenschaften als Eigenschaften interagierender, gruppenbildender Partner
(Gruppeneigenschaften), deren Herausbildung trotz streng determinierter Anfangsbedingungen nicht prognostizierbar und reproduzierbar
ist, verstehen.
Das klingt auf den ersten Blick völlig verworren. Auf den zweiten Blick sind uns jedoch Gruppeneigenschaften überschaubarer Systeme
im Alltag gut vertraut. So sind z.B. die allgegenwärtigen Eigenschaften von Wasser wie Leitfähigkeit, Löslichkeit, Viskosität usw.
zum Beispiel typische Gruppeneigenschaften, also Eigenschaften, die das einzelne Wasserteilchen nicht zeigt, die sich aber reproduzierbar
immer wieder bilden, wenn genügend Wasserteilchen mit ihren Teilcheneigenschaften unter den gleichen Bedingungen zusammen kommen. Hat man z.B.
ein einzelnes Wasserteilchen, kann man schwerlich vorhersagen, wie Wassereis ausschaut. Die Eigenschaften von Wassereis sind zum Beispiel ganz
klar Gruppeneigenschaften.
Bei komplexeren Systemen wie dem Wetter oder dem Muster von z.B. Zebras, lässt sich das Ergebnis nicht mehr so leicht wiederholen.
Sicher werden Zebras alle Streifen haben, komisch ist nur, dass die Streifen auch bei genetisch identischen Tier nicht deckungsgleich
sind. Auch wenn diese beiden Phänomene heute verstanden sind, mag man zu Recht einwenden, dass Wasser und Zebrastreifen nichts mit Bienen
zu tun haben. Betrachtet man jedoch die Entstehungsgeschichte des Lebens von der Kondensation der Energie zu Materie, der Entstehung der
vier Grundkräfte im Universum, der darauf basierenden Entstehung von Sternen, von Planeten bis zur Entstehung unseren Bienen, so stellt
man fest, dass neue Qualitäten in vielen Bereichen Gruppeneigenschaften voraussetzten und dass diese Entwicklungsschritte wie die Entstehung
der Zebramuster im Detail nicht wiederholbar sind.
So weit, so gut. Dummerweise verhält sich die Interaktion von Leben als die komplexeste uns bekannte Organisationsform von Materie
noch etwas komplizierter. Und wenn große Gruppen von Lebewesen wie z.B. unsere Bienen interagieren und in Volkseinheiten ein
unüberschaubares Beziehungsgeflecht bilden, wird es wirklich verrückt. Spätestens jetzt ist man geneigt, "die Flinte ins Korn zu
werfen" und alles als Zufall, also als einen statistischen Prozess abzutun. Aber genau das ist, denke ich, zu knapp gesprungen.
Kurz um - auf eine Gemeinschaft von Tieren wirken im ökologischen und sozialen Umfeld beliebig viele äußere Einflüsse. Fast alle
Einflüsse sind für sich gesehen von untergeordneter Bedeutung, beeinflussen in ihrer Gesamtheit aber das emergente Potential der
Gemeinschaft. Viel wichtiger als die Frage, warum ein Superorganismus erkrankt, ist die Frage:" Warum gelingt es dem Organismus
in der Mehrzahl der Fälle trotz vorhandener Fähigkeiten zur Abwehr nicht, eine Fehlentwicklung zu erkennen und rechtzeitig unschädlich
zu machen. Die Frage lautet nicht, was macht die einzelne Biene krank, sondern warum werden unsere Bienenvölker einmal mit Varroamilben
besiedelt in der Regel nicht wieder gesund. Warum überleben Honigbienen ohne Pflegemaßnahmen nicht?
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4. Eine alltägliche Beobachtung hilft weiter
Stellen sie sich z.B. vor, eine kleine Wachsmottenlarve zappelt auf der Wabe. Obwohl viele Bienen die Larve ignorieren und nur
wenige sie attackieren, werden fast alle Wachsmottenlarven aus dem Volk entfernt. Unsere Bienen handeln in erster Näherung scheinbar
autonom, jede Biene kann machen, was sie will und hat auch noch beliebig viele Möglichkeiten, irgendetwas zu machen. Und obwohl jede
Biene irgendwas machen kann und vermutlich auch irgendetwas macht, sind offensichtlich manche Handlungen häufiger und im Ergebnis
wird die Wachsmottenlarve entfernt. Ein äußerer Betrachter sieht die Gruppeneigenschaft: "Das Bienenvolk entfernt Wachsmottenlarven
aus dem Bienenstock". Welche Biene die Wachsmotte attackiert und welche eben nicht, ist weder vorhersagbar noch ist der Ablauf im Detail
wiederholbar. Wiederholbar ist lediglich, dass das Bienenvolk die Wachsmottenlarve aus dem Stock entfernt. Dieses optimale
Verhalten zum Wohle der Gemeinschaft kann man auch als Schwarmintelligenz bezeichnen.
Werden die Wachsmottenlarven nicht entfernt, weil Bienen, die die Larve entfernen könnten, es anderen Bienen überlassen, die Larve
zu entfernen und diese anderen Bienen es ihrerseits anderen Bienen überlassen usw., wäre das in unserem Sinne "Schwarmdemenz".
Unter Schwarmdemenz wollen wir hier verstehen, dass die Gemeinschaft "dümmer" agiert als isoliert lebende Einzeltiere. Bezogen auf
unser Beispiel meint Schwarmdemenz, dass die Gemeinschaft Schaden nimmt, da die Wachsmottenlarve nicht entfernt wird, obwohl in
der Gemeinschaft Gruppen von Individuen existieren, die die Möglichkeit haben, die Wachsmotte zu entfernen, aber nicht oder nicht
ausreichend aktiv werden.
Das oben beschriebene erfolgreiche Hygieneverhalten ist also eine Gruppeneigenschaft, ein rückgekoppeltes Phänomen, ein positives
oder negatives emergentes Verhalten. Das Handeln der Gruppe ist bei positiver Emergenz erfolgreicher als die Aktionen der einzelnen
Biene, deren individuelles Verhalten bedeutsam ist, aber in den Hintergrund tritt. Dass solche Gruppeneigenschaft von Lebens- und
Umweltbedingungen wie z.B. der Volksstärke beeinflusst werden, hat sicher schon jeder Imker beobachtet.
5. Wir schaffen uns ein einfaches Modell
Um zu versuchen, die beobachtete Varroatoleranz und das Überleben der wenigen autonomen Kolonien als emergente Eigenschaft
(oder Gruppeneigenschaft) des Bienenvolkes zu beschreiben, schaffen wir uns mal ein kleines einfaches Modell. Wie schafft man sich aber
ein solches, möglichst übersichtliches Modell, das mit wenigen grundlegenden Thesen auskommen soll? Lassen sie uns doch mal die
Beobachtungen bei den Wachsmotten auf unsere varroatoleranten, autonomen Bienenvölker übertragen. Ersetzen wir doch gedanklich
einfach unsere Wachsmottenlarve gegen die Varroamilben und schauen mal, ob das für unser Verständnis hilfreich ist.
Als erste These unseres Modells soll eine optimale Anzahl an Varroamilben im Bienenvolk vorhanden sein, damit die Bienen sich
mit den Milben ausreichend beschäftigen können. Als Zweites sehen wir einfach mal die Einzelbiene als kleinste Einheit an, die
physisch in der Lage ist, die Varroamilben irgendwie erfolgreich zu attackieren. Das ist beides zweifellos erfüllt. Ob die Einzelbiene
auch tatsächlich Milben attackiert, ist offen. Also brauchen wir als Drittes eine kleine Gruppe von Bienen, die auch aktiv wird und
sich mit den Milben auseinandersetzt. Viertens muss das Volk als Ganzes in den Zustand konstruktiver Interaktion mit den Milben in
den "Flow" kommen, also ein "schwarmintelligentes" Handeln ausbilden.
Diesen überschaubaren Ansatz kann man natürlich beliebig verändern oder erweitern. So ist, ohne die kognitiven Fähigkeiten der
Bienen zu überschätzen, zum Beispiel denkbar, dass auch Lern- oder Nachahmungsprozesse eine Rolle spielen. Eine Biene fängt an,
sich mit dem Milben auseinander zu setzen, eine andere macht es nach und mit der Zeit bildet sich ein Gleichgewicht zwischen
Milben, die es schaffen, sich zu vermehren und Milben, die von den Bienen entfernt werden. Ebenfalls dürften Stimuli aus der
Umwelt einen erheblichen Einfluss auf die Varroatoleranz, auf den Flow haben. Auch eine veränderte Fertilität der Varroamilben
könnte möglich sein. Zu guter Letzt kann man für so ein Modell auch Differentialgleichungen aufschreiben, um es zu
quantifizieren- ohne etwas Übung also eine eher kompliziertere Geschichte. Doch bleiben wir erst mal bei unseren vier überschaubaren
Annahmen. Wir werden sehen, dass schon dieser minimalistische Ansatz für das Verständnis hilfreich sein kann. Spielen wir in diesem
Rahmen doch einfach mal, was wäre wenn, ganz ohne Mathematik.
6. Sein Prognosepotential ist der größte Wert eines Modells
Ohne tiefer und zu sehr ins Detail zu gehen, bieten diese wenigen Überlegungen tatsächlich schon einige überprüfbare Ansätze.
So würde man erwarten, dass eine breite Mischung aus Generallisten und Speziallisten unter den Bienen der Situation am besten
gewachsen ist. Man sollte also genetische Diversität z.B. der Paarungspartner bevorzugen, damit im Bienenvolk viele
Geschwistergruppen mit unterschiedlichen Anlagen leben. Des Weiteren würde man erwarten, dass das imkerliche Populationsmanagement
der Varroamilben bei der Selektion varroatoleranter Bienen eine erhebliche Rolle spielt. Sind unsere Überlegungen nicht völlig
falsch, so sind sowohl eine zu kleine wie auch eine zu große Varroapopulation für die Selektion ungeschickt. Bricht die
Varroapopulation z.B. nach einer Pflegemaßnahme zusammen, würde folglich die kollektive Varroaabwehr ebenfalls zusammenbrechen.
Ob sich bei dem sich anschließenden erneuten Wachstum der Varroapopulation das Abwehrverhalten schnell genug wieder etabliert, wäre
nach unseren Überlegungen zu emergenten Eigenschaften offen. Es könnte genauso gut sein, dass die Varroapopulation die Schadschwelle
erreicht, bevor sich erneut eine effektive Varroaabwehr etablieren konnte, was den Kollaps des Volkes zu Folge hätte. Neben der
etablierten Zuchtarbeit wäre es nach unseren Überlegungen also von Vorteil, die Stärke der Varroapopulation im Bienenvolk zu optimieren,
um varroatolerantere Bienen zu selektieren. Ein, zur Optimierung der Varroapopulation auf mittlerem Niveau denkbares Verfahren wäre
z.B. gezielte Brutentnahme.
Des Weiteren müsste es nach unseren Überlegungen Stimuli geben, die die Ausbildung des Flows begünstigen. Was hilft den Bienen, die
Varroapopulation zu kontrollieren? Was lässt sie aktiv werden und was sollte man vermeiden? Ist z.B. Stress wie die Varroabehandlung
ein positiver oder negativer Stimulus? Sind Bienentee, Thymol oder andere Stoffe aus der Umwelt und Landwirtschaft hilfreich,
wirkungslos oder schädlich? Wie wirken sich Pollenversorgung, Nektarversorgung, Brutgröße, das Bienen zu Brut Verhältnis usw. aus?
Welchen Einfluss hat der allgegenwärtige Pflanzenschutz?
Was versetzt ein Bienenvolk mit geeigneten Voraussetzungen in die Lage,
mit der Varroa zu koexistieren? Dass ein Bienenvolk in den Flow kommen und langfristig überleben kann, haben wir beobachtet.
Unbeantwortet bleibt die Frage, wie ein Bienenvolk in den Flow kommt und warum Bienenvölker offenbar sehr, sehr selten die
Fähigkeit entwickeln, jahrelang mit der Varroa zu koexistieren.
Nun wäre es sicher nicht richtig, das Gesagte zu überbewerten. Ein Modell ist kein Abbild der Realität, es soll uns "nicht Bienen"
lediglich helfen, wichtige Zusammenhänge zu erkennen. Da wir nicht wissen, wie unser Modell richtig ist, versuchen wir einfach, es
möglichst wenig falsch zu machen, korrigieren uns ständig und werden dabei im Verständnis immer besser. Mit anderen Worten solche
Überlegungen sind nichts wert, wenn sie unsere Beobachtungen nicht erklären, kein Prognosepotential bieten und die Prognosen nicht
in der Realität an der Beobachtung scheitern können. So paradox es klingt, jede gescheiterte Prognose hilft uns beim Verständnis,
hilft bei der Verbesserung unseres Modells und damit auf dem Weg zur varroatoleranten Biene, auf dem Weg zu wieder frei und
autonom lebenden Honigbienen in Deutschland.
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